Übergänge (Transitions)

Zur Tuschemalerei von Jean-François Luthy

I. An solche Orte gerät man nur zufällig. Suchen würde man sie sicher nicht. Jean-François Luthy aber sucht sie. Es sind periphere Orte, Randzonen, Zwischenorte, mitunter denkt man sogar: Es sind Unorte, vielleicht Nicht-Orte im Sinn von Marc Augé: «So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.»
Jedenfalls sehen wir suburbane Brachen, ein unlokalisiertes, einsames Irgendwo, Räume, die an Eisenbahngeleisen oder am Stadtrand liegen könnten, unbenutzt, aber doch nicht ohne menschliche Spuren: Hütten, Stühle, Hausfragmente, Bauschutt. Eine Art moderne Wildnis, in der bereits Menschen waren, die aber schon wieder verschwunden sind. Vielleicht, so schiesst es einem durch den Kopf, ist hier etwas passiert; vielleicht auch wird bald etwas geschehen, und die Menschen, die hier ihre Spuren hinterliessen, werden wieder auftauchen. Und das könnte geradezu unheimlich werden, ist man doch in ihr Revier eingedrungen, das sie sich bewusst an diesem Ort ausgesucht haben.
Es sind also die Dinge, die in Relation mit dem Ort Geschichten zu erzählen beginnen, jedoch solche, die man nicht kennen kann, nie kennen wird, die sich fast automatisch im Kopf abspielen.
Dann wieder wirken die Orte wie eine Bühne. Und da wäre es wenig erstaunlich, wenn urplötzlich Estragon und Waldimir auftauchen würden, die beiden Hauptfiguren aus Samuel Becketts Warten auf Godot. Man würde dann Zeuge von Dialogen, die die Hoffnungslosigkeit des Ortes mit der Hoffnungslosigkeit der Existenz verbänden:

«Estragon: Komm, wir gehen!
Wladimir: Wir können nicht.
Estragon: Warum nicht?
Wladimir: Wir warten auf Godot.
Estragon: Ach ja!»

Die Orte sind also – wie das Bild «Pass» konkret und topografisch – immer so etwas wie übergänge. Die Zeit steht für einen kurzen Moment still – was vorher war ist ebenso unklar wie das Nachher. Der Raum ist stillgelegt – das Woher muss ebenso offen bleiben wie das Wohin. Das wird am deutlichsten in den Bildern mit den Treppen, die da im Irgendwo abgeladen wurden. Ist das Abfall, Schutt aus abgerissenen Häusern, Spur eines unbekannten Vorher? Oder werden das Fertigelemente sein, die in ein Haus eingebaut und so Teil einer neuen Geborgenheit, eines Nachher, sein werden? Diese Treppen stehen zugleich als Bilder für den übergang vom Woher ins Wohin: Führen sie nach oben, nach unten – oder, was augenscheinlich ist, nirgendwo hin?

II. Mitunter entsteht – und das ist überraschend und vielleicht sogar etwas paradox –, irgendwie blitzt da und dort der Eindruck auf, als ob Jean-François Luthy insgeheim ein Romantiker wäre. Und zwar mit Sicherheit keiner der harmlosen Art, vielmehr einer, der im Fragmentarischen und gar im Zerstörten wieder Ganzheit sucht, wohl wissend, dass es diese nicht mehr geben wird. Es gibt bei ihm deswegen auch die Faszination für die Ruine, freilich nicht wie bei Caspar David Friedrich für die Ruinen gotischer Kirchen und Kapellen. Bei Luthy ist die Ruine der Zivilisationsschutt – als Ruine per se jedoch ein ästhetisches und geradezu metaphorisches Objekt, ebenfalls eine Form des übergangs, wie dies der deutsche Philosoph Hartmut Böhme einmal formulierte: « Die Ruine zeigt eine prekäre Balance von erhaltener Form und Verfall, von Natur und Geschichte, Gewalt und Frieden, Erinnerung und Gegenwart, Trauer und Erlösungssehnsucht, wie sie von keinem intakten Bauwerk oder Kunstobjekt erreicht wird.»
Sind solche Bezüge erst einmal ins Blickfeld gerückt, erstaunt es auch nicht, wenn die hingeworfenen, aufgeworfenen Treppenfragmente unweigerlich an Friedrichs Das Eismeer erinnern.
Derart sind die Bilder von Jean-François Luthy in sich transitorisch. Nicht nur bergen die Bilder in sich den räumlichen und zeitlichen übergang, sie auch sind übergänge, indem die auf den ersten Blick zwar keineswegs malerisch, aber örtlich langweilig erscheinenden Unorte sich gerade wegen ihrer scheinbaren Indifferenz in Orte voller Spannungen und Bezüge verwandeln – und so eben gerade keineswegs Nicht-Orte im Sinn von Augé sind.

III. An solche Orte gerät man nur zufällig. Oder es sei denn, man hätte ein Interesse am Unbedeutenden. Oder man hätte, wie Jean-François Luthy, einen genauen und scharfen Blick für die Bedeutung des Unbedeutenden. Nicht dass er dem Unbedeutenden eine überhöhte Bedeutung zumessen würde, das nicht, aber er spürt Dinge auf und rückt Dinge ins Bild, die sich leicht übersehen lassen, weckt das Interesse für das Nebensächliche, das etwa darin bestehen kann, dass eine Feuerstelle, bestehend aus einem Kieselkreis, Formationen der Arte povera assoziieren lässt.
Das Medium, um das Nebensächliche ins richtige Licht zu rücken, ist die Technik der Tusche-Malerei, die der Künstler in unverwechselbarer Weise für sich weiter entwickelt hat. Dabei geht er eigentlich vor wie ein Fotograf: Er lässt das Licht spielen und betreibt Licht-Bildnerei. Er löst die Landschaft auf in Lichtpunkte und Lichtflächen. Was dazwischen ist, sind die Schatten, die sich aus der weissen Fläche des Bildes heraus entwickeln wie die Fotografie im Entwicklerbad des Labors. Das aber geschieht bei Luthy vor Ort, in den Augen, übertragen durch die malende Hand. So ist die Rede von der Fotografie nur eine Metapher, um die besondere Erscheinung dieser Bilder vielleicht besser und gewissermassen als übergang zweier Medien – der Malerei/Zeichnung und der Fotografie – zu verstehen.

IV. Wenn die Fotografie mit Hans Finsler als Stillstand der Sonne zu verstehen ist, dann gilt das auch für die Malerei von Luthy. Allerdings ist der Stillstand im Unterschied zur Fotografie in dieser Malerei das Resultat einer langen Dauer, während der der Künstler sein Sujet genau beobachtete und festhielt. In dieser Zeit changierte das Licht. Umso erstaunlicher ist der Eindruck der Einheit des Lichts, der – vor Ort gemalt – erzielt wird. Das lässt nur einen Schluss zu: Luthy ist nicht nur ein genauer Beobachter der wechselnden Momente, sondern hat Lichterscheinungen in allen Nuancen und seit langer Zeit studiert; er kann offensichtlich auf einen grossen Erfahrungsschatz zurückgreifen.
Die Einheit des Lichts ruft in den Augen des Betrachters zugleich eine Art Flimmern hervor, nicht durch Unschärfe, sondern dadurch, dass es viele Licht- und Schatteneffekte sind, die Luthy festhält. So kompakt und nuanciert die Malerei ist, so sehr macht es den Anschein, als könnte sich das Bild im nächsten Moment auflösen – ein weiteres, faszinierendes übergangsphänomen also. Eines, das in der Tradition der Schweizer Malerei an Frank Buchser und Robert Zünd denken lässt, die äusserst subtil mit Licht und Schatten umgingen, die das immaterielle Licht virtuos zu bannen vermochten – ohne dass dieses jedoch erstarrt. Anders aber als bei Zünd beleuchtet das Licht bei Luthy nicht eine Sehnsuchtslandschaft; die Schönheit des Lichts kippt ins Unheimliche, an diesen Orten, die man lieber auf den Bildern sieht, als dass man sie aufsuchen würde.

Konrad Tobler

 

  1. Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main 1994. S. 92.
  2. Ähnliche Motive und Stimmungen – freilich völlig anders umgesetzt – tauchen beim österreichischen Maler Alois Mosbacher auf, etwa in der Reihe New Order. Vgl. dazu: Konrad Tobler: Die Hütte. Vorsicht. Nur zu! – Les règles du jeu | Bilderregeln. In: Alois Mosbacher: outside fiction. Neue Galerie Graz/Universalmuseum Joanneum 2010, S. 126ff
  3. Samuel Beckett: Warten auf Godot. En attendant Godot. Waiting for Godot. Frankfurt am Main 1971, S. 39, 125, 157, 169, 175, 207f.
  4. Hartmut Böhme: Die Ästhetik der Ruinen. In: Dietmar Kamper / Christoph Wulf (Hg.): Der Schein des Schönen. Göttingen 1989, S. 287.
  5. «Die Photographie ist Stillstand. Sie unterbricht den Strom des Lebens.
 Die Sonne kreist nicht mehr.»(Hans Finsler: Das Bild der Photographie [1964]. Zit. nach: www.kritik-der-fotografie.at/01-Augenblick.htm)